Motor der Digitalisierung

Virtuelle Doppelgänger

von - 08.05.2024
Foto: Shutterstock/Ole.CNX
Digitale Zwillinge optimieren Prozesse, minimieren Ausfallzeiten und reduzieren Kosten. Es ist aber nicht trivial, sie in der Praxis aufzubauen.
Der Automobilhersteller BMW setzt sie ein, aber auch der Brauereikonzern Heineken und Linde Material Handling, ein Hersteller von Gabelstaplern: digitale Zwillinge. Darunter versteht man zunächst einmal das virtuelle Abbild eines Objektes oder Systems aus der realen Welt. Aber es lassen sich auch Geschäftsprozesse, Fabriken, Gebäude und sogar Gemeinden und Städte als Digital Twins abbilden.
«Ein zentrales Merkmal von Digital Twins ist die Fähigkeit, in Echtzeit oder nahezu Echtzeit Daten aus der physischen Welt zu integrieren. Das bedeutet, dass digitale Zwillinge fortlaufend mit aktuellen Daten aus Sensoren, IoT-Geräten und anderen Quellen gefüttert werden», erklärt dementsprechend Johannes Ch. Eibinger, Director Business Development & Presales AT/CH bei Siemens Digital Industries Software.
Johannes Fuhrmann wiederum, Head of Business Development für die Fertigungsindustrie beim IT- und Technologiedienstleister Arvato Systems, kennt dagegen unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein Digital Twin ist: «Die Definition und Anwendungsweise von digitalen Zwillingen ist heterogen.» So schaffen seiner Einschätzung nach firmeninterne Use Cases im Bereich Konstruktion oder Condition Monitoring 3D-Modelle, die als digitaler Zwilling zusätzliche Effizienz garantieren. «Genauso aber wird ein in der eigenen Produktion per QR-Code nachverfolgbares Bauteil als Digitaler Zwilling bezeichnet, obwohl es sich hier ‚nur‘ um Datenpunkte handelt. Anwendungs- und Umsetzungsszenarien unterscheiden sich demnach. Dies erschwert den Aufbau interoperabler Use Cases.»
Eine Möglichkeit, Klarheit zu schaffen, sieht Fuhrmann darin, zwischen «Digitalen Zwillingen» (3D-Modellen) und «Digitalen Schatten» (Lifecycle-Produktdaten ohne visuelle Modellierung) zu unterscheiden.
Trotz solcher begrifflicher Unschärfen setzen Unternehmen in der DACH-Region verstärkt digitale Zwillinge ein. BMW verwendet neben der Digital-Twin-Plattform von Dassault Systèmes die Omniverse-Plattform von Nvidia. «Bei der Einführung neuer Fahrzeugmodelle nutzen Fabrikplaner beispielsweise digitale Zwillinge, um das Layout der Produktionsanlagen effizient zu rekonfigurieren», beschreibt Dr. Timo Kistner, EMEA Industry Lead KI für Fertigung und Industrie bei Nvidia, ein praktiziertes Einsatzszenario. Dadurch steige bei BMW die Effizienz von Planungsprozessen um bis zu 30 Prozent. Außerdem können laut Timo Kistner die Fachleute des Automobilherstellers im Vorfeld prüfen, wie sich Maschinen und Roboter optimal in der Fabrik platzieren lassen.

Von Bierbrauer bis Gabelstapler

Braurei-Gigant Heineken ermittelt mit einem digitalen Zwilling von Siemens, wie viel Energie die einzelnen Prozesse beim Brauen von Bier benötigen – und wie man durch Optimierung der Heiz- und Kühlsysteme Energie und CO₂ einsparen kann. Die Grundlage dafür liefern die Betriebsdaten der jeweiligen Standorte. Laut Heineken und Siemens hat der digitale Zwilling offenbart, dass sich etwa 50 Prozent der CO₂-Emissionen vermeiden lassen. Und der Energieverbrauch in den Brauereien und Mälzereien des Konzerns kann um 15 bis 20 Prozent gesenkt werden, etwa durch Wärmepumpen. In einer ersten Phase will Heineken mit dem Digital Twin 15 Standorte modernisieren. Damit stellt der digitale Zwilling einen wichtigen Baustein in der Strategie des Konzerns dar, in den kommenden Jahren die direkten Emissionen und den Schadstoffausstoß aus Energieträgern auf null zu reduzieren.
Ein weiteres Beispiel für einen digitalen Zwilling: Für Linde Material Handling hat Concept Reply einen Gabelstapler virtualisiert. «Alle Modifikationen an der Fahrzeugkonfiguration spiegeln sich im digitalen Zwilling wider. Auch Änderungen an der Hardware lassen sich im Digital Twin nachvollziehen», erläutert Dorian Gast, Associate Partner beim IT-Dienstleister Concept Reply. Bislang hatten nur Servicetechniker vor Ort die Option, sich über Änderungen an Hard- und Software oder den Zustand eines Staplers zu informieren.

Keine Simulationssysteme 3.0

Die Beispiele legen auf den ersten Blick nahe, dass es sich bei digitalen Zwillingen um optimierte Systeme für die Simulation von Gegenständen, Systemen und Prozessen handelt. Dem ist aber mitnichten so, wie Dorian Gast feststellt. Er betont: «Es geht es vor allem darum, dass ein digitales Abbild des physischen Objekts in Echtzeit eine Zustandsanalyse ohne direkten menschlichen Kontakt ermöglicht. Zudem können die Objekte proaktiv verwaltet werden. Software-Updates lassen sich aus der Ferne und vollautomatisch einspielen.» Herkömmliche CAD-CAE-basierte Simulationstechniken bieten seiner Ansicht nach viel weniger. «Der Hauptunterschied besteht darin, dass der digitale Zwilling in Echtzeit kommuniziert. Er wird parallel zum realen System betrieben und kontinuierlich mit den gleichen Daten versorgt, die auch das reale System erhält. Somit werden immer die gleichen Varianten validiert.»

Industrieanwendungen dominieren

Was die Einsatzfelder von digitalen Zwillingen betrifft, sind sich alle Fachleute einig: Es gibt jede Menge davon. «Smart Manufacturing, Medizin, aber auch Smart Citys, Connected Infrastructure sowie das Bauwesen in Form von Zwillingen von Brücken oder Gebäuden», nennt zum Beispiel Florian Gast. Doch speziell in Deutschland und der Schweiz mit ­ihren vielen Industrieunternehmen dominiert bislang noch ein ganz bestimmter Use Case – die Industrieanlage.
«Die wichtigsten Anwendungen liegen weiterhin in der Überwachung von Produktionsanlagen, um Ausfälle zu verhindern und Qualitätsprobleme zu verstehen, sowie in der Betriebsüberwachung für einen vorausschauenden Service von Maschinen», berichtet Dominik Rüchardt, Senior Director Customer Strategy Office – Commercial Excellence bei PTC, einem Technologieunternehmen, das sich auf Bereiche wie IoT, Product Lifecycle Management, CAD und Augmented Reality konzentriert. «Beides schließt das kontinuierliche Verbessern von Produkten ein, das oft schon in der Entwicklung beginnt.»
Mit virtuellen Ab­bildern physischer «Assets» können digitale Zwillinge Abläufe und Prozesse simulieren und optimieren.
(Quelle: Bosch )
Eine zentrale Rolle beim Datenaustausch spielt das Internet der Dinge (IoT). Das ist auch der Grund dafür, dass sich etliche Betreiber von IoT-Plattformen im Bereich ­Digital Twin engagieren. Dazu zählen beispielsweise PTC, Siemens und Bosch im Industrieumfeld, aber auch Cloud-Serviceprovider wie Amazon mit AWS und ­Microsoft mit Azure.

Ausfallzeit senken – Nachhaltigkeit stärken

In der Fertigung spielt ein Digital Twin mit IoT und Anwendungen wie der vorausschauenden Wartung (Predictive Maintenance) zusammen. Der Grund liegt auf der Hand: «Ausfallzeiten werden schnell sehr teuer. Sie lassen sich mit einem digitalen Zwilling verkürzen oder sogar ganz vermeiden, weil Probleme entweder bereits erkannt werden, bevor sie auftreten, oder weil sie in viel kürzerer Zeit gelöst werden können», betont Dominik Rüchardt.
Hinzu kommen geringere Kosten für Wartung und Reparaturen, etwa weil sich solche Aufgaben mit Unterstützung einer digitalen Version von Maschinen und Komponenten remote durchführen lassen. «Letztlich kann ein Digital Twin dazu beitragen, ganze Anlagen so zu steuern, dass sie auf hohem Niveau kostengünstig und fehlerfrei laufen», resümiert Rüchardt.
Ein Einsatzbereich von Digital Twins hat durch Vorgaben des Gesetzgebers in letzter Zeit stark an Bedeutung gewonnen: die Entwicklung von Modellen, mit deren Hilfe Unternehmen und öffentliche Hand umweltschonender agieren. «Das Nachhaltigkeitsmanagement ist sicherlich eines der wichtigsten Anwendungsfelder», bestätigt Johannes Fuhrmann von Arvato Systems. In der EU sind das Lieferkettengesetz und die CO₂-Steuer Beispiele für Regelungen, bei deren Umsetzung Unternehmen von digitalen Zwillingen profitieren. Dasselbe gilt für die Schweiz. Dort gibt es bereits seit 2008 eine CO2-Abgabe.

Traceability nutzen

Wenn Produkte und Bestandteile mit QR-Codes ausgestattet werden, lassen sie sich über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg verfolgen und Prozesse, Engpässe und Optimierungsmöglichkeiten in der Supply Chain offenlegen. Diese Traceability hat gleich mehrere Vorteile. «Rückrufaktionen und fehlerhafte Chargen lassen sich deutlich kleinteiliger verfolgen; Produktnutzungsdaten können anwenderspezifisch zugeordnet werden, und es ist leichter, Compliance-Anforderungen umzusetzen», so Johannes Fuhrmann.
Auch Servicetechniker profitieren von der Nachverfolgbarkeit. So stattet der Automatisierungsspezialist ABB bereits seit mehreren Jahren Komponenten wie Elektromotoren und Frequenzumrichter mit einem QR-Code aus. Über ihn haben Techniker und Servicemitarbeiter Zugriff auf die digitalen Zwillinge der Systeme und Komponenten, inklusive Informationen über den Produktionszeitpunkt, Konstruktionsdaten, Modelle, Simulationen, Handbücher und die Service-Historie. Das vereinfacht die Wartung und Reparatur solcher Systeme spürbar.

Typen von Digital Twins

Unternehmen, die einen digitalen Zwilling entwickeln möchten, stehen als erstes vor der Aufgabe, die passende Version auszuwählen. Siemens differenziert laut Johannes Ch. Eibinger drei Modelle:
Digital Twins of the Product für die effiziente Entwicklung neuer Produkte: Sie stellen eine virtuelle und physische Verbindung her, mit der Nutzer analysieren können, wie ein Produkt unter verschiedenen Bedingungen funktioniert. Dies stellt sicher, dass das nächste physische Produkt genau so funktioniert wie geplant.
Digital Twins of Production für den Einsatz in Fertigung und Produktionsplanung: Damit kann ein Unternehmen ermitteln, wie gut ein Fertigungsprozess in der Werkstatt funktioniert, bevor er in Produktion geht.
Digital Twins of Performance: Intelligente Produkte und Anlagen erzeugen riesige Mengen an Daten über ihre Nutzung und Effektivität. Der Digital Twin erfasst diese Daten und analysiert sie, um verwertbare Erkenntnisse für eine fundierte Entscheidungsfindung zu liefern.

Kein «Mal-eben-schnell»-Projekt

Für Unternehmen kann es eine Herausforderung darstellen, eine tragfähige Gesamtlösung zu implementieren. «Ein einzelner Digitaler Zwilling ist schnell beschrieben und vorführfähig aufgesetzt. Eine industriefähige Architektur für digitale Zwillinge ist etwas ganz anderes», betont Dominik Rüchardt von PTC. Der Grund: Es mischen sich schnell sehr komplexe Daten und Prozesse mit einer hohen Änderungsdynamik. «Nicht nur die einzelnen beteiligten Komponenten, sondern alle vernetzten Systeme, der ‚Digital Thread‘ als Vernetzungsstrategie, kommen hier zur vollen Entfaltung» so Rüchardt.
Das Konzept des Digital Thread bei Digital Twins spielt auch für Siemens eine zentrale Rolle. Es sieht vor, dass alle relevanten Daten verknüpft und synchronisiert werden – von Produktentwicklung über Fertigung und Lieferkette bis Betrieb und Service. Ziel ist, eine höhere Transparenz der Effizienz zu erreichen und zudem die Kontrolle über Prozesse zu gewinnen, was letztlich zu verbesserten Produkten und Dienstleistungen führen soll.
Doch speziell die Verbindung von Daten ist für viele Unternehmen eine Herausforderung: «Bei der Erstellung digitaler Zwillinge müssen die Teams häufig Daten von verschiedenen Seiten und Tools in unterschiedlichen Formaten manuell sammeln und aufbereiten. Dies führt oft zu veralteten Daten im Modell, die wichtige Entscheidungen beeinflussen, und zu teuren Verzögerungen und Nacharbeiten führen», berichtet Timo Kistner von Nvidia.
Erforderlich sind seiner Ansicht nach Standards, Software Development Kits, Microservices, Collaboration-Funktionen und Visual-Computing-Plattformen wie Nvidia RTX. Mit ihnen lassen sich Datenquellen integrieren und Tools und Services entwickeln, die wiederum für das Erstellen von Digital Twins benötigt werden. Mit Omniverse hat Nvidia eine Plattform geschaffen, auf der auch Anbieter wie Autodesk, Siemens und PTC Tools bereitstellen. Dies soll Firmen den Einstieg in die Thematik erleichtern und die Zusammenarbeit fördern. Auch Dienstleister wie das deutsche Unternehmen Ipolog nutzen die Plattform, um Anwendungen und Services im Bereich digitale Zwillinge zu entwickeln. Diese stellt Ipolog kleinen und mittelständischen Firmen zur Verfügung.

Digitale Zwillinge für den Menschen

Spannende Perspektiven bietet auch die Kombination aus Metaverse und Digital Twins. Ob sich Industrial-Metaverse-Plattformen durchsetzen, ist zwar noch offen, doch finden sich in diesem Bereich schon jetzt interessante Ansätze. So nutzt die Lufthansa virtuelle Versionen von Flugzeugkabinen und Passagieren in Verbindung mit der VR-/AR-Brille Vision Pro von Apple. Flugbegleiter lernen so, mit verängstigten oder aggressiven Passagieren umzugehen.
Experten des Strategy Lab der Universität Zürich gehen davon aus, dass in absehbarer Zeit digitale Zwillinge von menschlichen Organen und Stoffwechselprozessen in der Medizin und der Forschung eine wichtige Rolle spielen. Der Digital Twin eines Patienten könnte genutzt werden, um die Wirkung von Therapien und Medikamenten zu testen – ohne Risiko für den «echten» Menschen.
Allerdings räumen Unternehmen wie Siemens Healthineers ein, dass es noch ein langer Weg ist bis zum «digitalen Patienten». Denn es sind nicht nur technische Herausforderungen zu meistern, etwa bei der automatisierten Analyse von Daten und der Visualisierung dieser Informationen mittels Cinematic Rendering. Auch der Schutz von Patientendaten und die schwache Digitalisierung des Gesundheitswesens können sich als Hemmschwellen erweisen.

Fazit & Ausblick

Gerade für Industrieländer mit hohen Arbeitskosten ist der Digital Twin interessant. Er kann dazu beitragen, Entwicklungs- und Fertigungsabläufe effizienter, kostensparender und nachhaltiger zu gestalten. Selbiges gilt für die Planung und Umsetzung von Projekten – vom Klinikbau bis zur Nahverkehrsoptimierung. Zuvor müssen aber Unternehmen, Standardisierungsgremien und öffentliche Hand ihre Hausaufgaben machen. Zu den wichtigsten zählt, für Integrität, Qualität und Sicherheit der Daten zu sorgen, auf denen Digital Twins basieren. Auch die Interoperabilität von Systemen und Plattformen muss gewährleistet sein. Und wie bei vielen Technologien gilt es, die Anwender «mitzunehmen», die mit einem einen digitalen Zwilling zusammenarbeiten sollen.
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